Ko-respondenzmodell in der Integrativen Agogik

Quellen:
Petzold H. G., Das Ko-respondenzmodell in der Integrativen Agogik, Integrative Therapie, 1/78, S. 21-58
Petzold H: G., Integrative Therapie II/1, S. 93 ff.

Das Ko-respondenzmodell stellt ein zentrales Handlungskonzept der Integrativen Supervision dar. Es impliziert die Einheit von Theorie und Praxis und arbeitet mit Methoden als Strategien des Handelns, die über ein theoretisches Konzept abgesichert sind.

Ko-respondenz ist ein synergetischer Prozess direkter und ganzheitlicher Begegnung und Auseinandersetzung zwischen Subjekten auf der Leib-, Gefühls- und Vernunftsebene über ein Thema/Problem unter Einbeziehung des jeweiligen Kontextes.

Ziel von Ko-respondenz ist die Konstituierung von Konsens, der in Konzepten Niederschlag finden kann.

Voraussetzung für Ko-respondenz ist die wechselseitige Anerkennung subjektiver Integrität, die durch Konsens bezeugt wird, und sei es nur der Konsens darüber, miteinander auf der Subjektebene in den Prozess der Ko-respondenz einzutreten.

Thesen

  • Der Mensch ist ein Leib-Seele-Geist Subjekt im sozialen und ökologischen Umfeld. Mensch und Welt sind aufeinander bezogen (Persönlichkeitskonzept)
    Aus der Interaktion mit dem sozialen und ökologischen Umfeld gewinnt der Mensch seine Identität.
  • Alles Sein ist Mit-Sein (Koexistenzkonzept)
    Existenz ist niemals losgelöst aus einem Lebenszusammenhang
  • Sinn ist immer mit anderen und anderem (Konsenskonzept)
    Der Gewinn von Sinn ist nur in der gemeinschaftlichen Auseinandersetzung mit anderen im jeweiligen Zusammenhang möglich. Weil wir in Zusammenhängen leben und diese kostitutiv für unsere Identität und Integrität sind, weil Bewußsein immer gerichtet ist, existiert Sinn nie als Sinn für sich, sondern immer nur als Sinn mit den anderen, als Kon-sens.
  • Sinn konstitutiert sich nur in abgrenzbaren Zusammenhängen. Bedeutungssinn ist intersubjektiv konstitutiert (Konstitutionskonzept)
    Sinn konstituiert sich niemals für sich selbst, sondern schließt einen Verweisungshorizont mit ein. "Mein" Sinn ist daher mein Standort im Kontext, mein Standort mit anderen und anderem, weil Sinn sich nur in Gefügen artikuliert. Sinn tritt immer in abgegrenzten Zusammenhängen auf und weist gleichzeitig über den Zusammenhang, den er angehört, hinaus, indem er andere Möglichkeiten vorstellbar macht. Die Konstitution von Sinn erfordert also Zusammenhänge und Bezogenheit, System und Welt, Mensch und Mitmensch.
  • Als Konsens artikulierte Koexistenz ist Garant für Integrität (Integritätskonzept)
    Integrität kann ein sinn-volles Konzept gesellschaftlicher Weitereintwicklung sein. Sie impliziert fundamentale Sorge um und Verantwortung für den anderen Menschen. Eine "Ohne-mich-Haltung" ist hinfällig.
    Wer existentiell erfahren hat, dass, wo immer die Integrität eines Menschen bedroht ist, auch seine eigene Integrität gefährdet wird, wo immer die Integrität unseres ökologischen Lebensraumes zerstört wird, auch sein Leben gefährdet ist, der wird mit aller Kraft und Engagement auch für den anderen und diese Welt eintreten.
  • Der Leib als wahrnehmende Bewußtheit ist immer auf anderes bezogen (Intentionalitätskonzept)
    In der sinnhaften Erfahrung der Welt, mit der ich durch meine Sinne in einer primordialen (ursprünglichen) Ko-respondenz stehe, wir Sinn gewonnen. Die Welt, das ist mein Leib, sind Menschen, die Dinge. Primordiale Ko-respondenz mit diesen beginnt, wenn ich meine Sinne, meine awarness auf sie lenke. Wenn ich sehe, richte nicht nur ich meine Augen auf eine Sache, sondern auch sie "fällt mir ins Auge", ich sehe sie im Zusammenhang und bin selbst Teil des Kontextes. Aus dieser wechselseitigen Beziehung, in diesem Kontakt formt sich Sinn.
  • Identität wird durch Interaktion (Kontakt und Abgrenzung in einem) gewonnen (Identitätskonzept)
    Der Mensch ist ein Leib-Seele-Geist-Subjekt in einem sozialen und ökologischen Umfeld. Aus der Interaktion mit diesem gewinnt er seine Identität.
  • Wirklichkeit ist in sich mehrdeutig (Ambiguitätskonzept)
    Durch die Verschiedenheit im Erleben und Reflektieren der einzelnen Subjekte wird sich Konsens niemals als identische Bedeutung erreichen lassen, sondern nur als Näherungswert von mehr oder weniger hoher Prägnanz. Konsens erfordert Interpretation, impliziert immer Annäherung und verlangt deshalb von den interagierenden Subjekten immer eine Toleranz gegenüber Ambiguität.
  • Lebensprozesse vollziehen sich unter Konditionen von Diskontinuität und Regelhaftigkeit (Kontinuitäts-/Diskontinuitätskonzept)
    Im Ko-respondenzprozess weist die Phasenfolge (Initial-, Aktions-, Integrations-, Neuorientierungsphase) nur bedingt Kontinuität auf. Sprünge, Abbrüche, Blockierungen, Oszilieren zwischen Phasen, Wiederholungen usw. sind möglich. Das Phasenmodell gibt eine Leitlinie vor und impliziert eine Konsens- und Kooperationsintention. Wenn es ganz durchlaufen wird, werden Konsens und Praxis kostituiert.
  • Das Gesamt von Wirkungen ist mehr und etwas anderes als die Summe von Teilwirkungen (Synergieprinzip)
  • Nichts kann ohne seinen Zusammenhang sinnvoll begriffen werden (Kontextprinzip)
  • Alles Erleben, Geschehen und Handeln ist gegenwartsgebunden (Hier-und-Jetzt-Prinzip)
    Wenn Sinn an die Sinne, bewußtes Erleben an "sinnhafte Erlebnisverarbeitung" gebunden ist, so ist Sinn zumindest in Hinblick auf seinen Bedeutungsaspekt immer ein gewirkter und ein gegenwärtiger, weil Erleben sich von Gegenwart zu Gegenwart vollzieht und Vergangenheit nur memoriert und die Zukunft nur antizipiert einbezogen werden können.

Elemente

Kontext

Der Kontext ist eine raum/zeitliche Struktur die sinnhaft wahrgenommen wird und eine historisch/ökonomische Struktur, wie sie reflexiv erschlossen und mit Bedeutung versehen wird.
Interaktionen können nicht vom Kontext abstrahiert werden, sie sind für ihn genauso konstitutiv wie die Interagierenden.

Intersubjektivität - Ego mit Alter

Die Intersubjektivität gründet im Koexistenzaxiom. Weil Ich und Du immer nur aus wechselseitiger Bezogenheit existieren, d.h.: sie koexistieren, ist es sinnvoll, Ich und Du im Ko-respondenzmodell als Elemente nicht voneinander zu isolieren, sondern die intersubjektive Beziehung insgesamt als Element zu nehmen. Sie ist der fundamentale Beziehungsmodus im Ko-respondenzprozess, durch den allein Konsens als gemeinsam gewirkter und getragener Sinn sich artikulieren und Dissens ertragen werden kann. Intersubjektivität erfordert eine fundamentale Annahme des anderen als den, der er ist, verschieden von mir und mir doch verbunden. Sie gründet in dem Wissen, dass Ego nur möglich ist als Ego mit Alter, Ich mit dem Anderen.

Das Thema

Die Thematisierung des Themas bzw. der Themensetzung ist wesentlicher Schritt in der Initialphase. Ein Thema stellt, sofern es sich aus der Situation ergeben hat oder vorgegeben wurde, eine Reduktionsleistung dar. Die Bearbeitung des Themas erfolgt auf verschiedenen Ebenen, die ineinander spielen bzw. miteinander ko-respondieren:

  • Die Sachdimension
    Inhalte, Sachzusammenhänge, Fakten, - je mehr Prägnanz, desto besser ist die Ausgangslage
  • Die Affektdimension
    Die Affektdimension wird bestimmt durch die affektiven Erfahrungen, die einzelne Teilnehmer am Ko-respondenzprozess mit dem Thema im Verlaufe ihrer Biografie gemacht haben und durch den Wertbezug, den sie zu dem Thema für eine Ko-respondenzgruppe insgesamt hat.
    Mit der Offenlegung des jeweiligen persönlichen, affektiven Bezuges zum Thema wachsen Vertrauen und Offenheit in der Gruppe, intensiviert sich das intersubjektive Klima und werden die persönlichen Erfahrungen einzelner für den Gesamtprozess als Resource erschlossen. 
  • Die Zieldimension
    Zentrales Thema im Ko-respondenzprozess ist die Frage, welchen spezifischen und übergeordenten Zielen das Thema dient. Sie lässt erkennbar machen, ob das Integritätskriterium gewährleistet ist.
  • Die Transferdimension
    Die Dimension des Themas reflektiert mögliche Handlungskonsequenzen, sie ist der Brückenschlag zur Praxis. Dabei müssen zwei Modalitäten im Auge behalten werden:
     a) kreative Anpassung: Vorhandenes festigen, stabilisieren, bewahren, ...
     b) kreative Veränderung: Potentiale freigeben, umstrukturieren, entwickeln, ...

Prozess -> Theorie-Praxis-Zyklus

Das Ko-respondenzmodell ist ein Prozessmodell. Seine Elemente wirken in einem strukturellen Ablauf zusammen. Dieser Verlauf wurde ursprünglich durch die Analyse von Prozessen in aktiven therapeutischen Verfahren herausgearbeitet: der Gestalttherapie von Perls, dem Psychodrama Morenos, dem therapeutischen Theater von Iljines und führte zur Konzipierung des Tetradischen Systems der Intergrativen Therapie.

Initialphase

Wahrnehmung der Situation, ich erfahre den Anderen, der Andere erfährt mich, ich erfahre mich durch den und mit dem Anderen. Folgende Aspekte kommen zum Tragen: Wahrnehmung, Kontakt, Orientierung, Sichtung des Materials, Reflexion der Materialien, vorläufige Konzept- und Hypothesenbildung, Grobanalyse des Kontextes und der Zielrichtung, Ko-respondenz über das Arbeitsklima und die Zielrichtung der Gruppe, Thematisierung des Themas. Zu den Sachinformationen gehören Fakten, Alltagswissen, persönliche Erfahrungen , emotionale und wertende Stellungnahmen.

Aktionsphase

Das formulierte Themenproblem ruht, tritt in den Hintergrund. Häufig tritt eine spontane Entwicklung im Gruppenprozess auf, indem der eine oder andere Teilnehmer "plötzlich" eine Lösung, einen Lösungsaspekt hat oder eine gänzlich neue Sicht eingebracht wird. Derartige persönliche Evidenzerlebnisse (durch Zusammenspiel der rechten und linken Hemisphäre im Denken) sind aber noch nicht mit Konsens gleichbedeutend. Das Thema steht nun "in seiner ganzen Breite" da, ist aber noch nicht ausdifferenziert.

Integrationsphase

Sie hat zum Ziel, Veränderungen in der Bewußtheitslage prägnant zu machen, den Sinn des Geschehens hervorzuheben, das Erarbeitete kritisch zu bewerten und zu Handlungskonsequenzen überzuleiten. Die Lösungen werden sprachlich prägnant gefasst. Dieser "elaborierte Konsens" kann als Konzept gelten.
Die Integrationsphase bereitet auch Ko-operation vor, schon durch die Gruppenarbeit selbst: durch emotionales Teilnehmen and den Erfahrungen des anderen und Offenlegung des eigenen Erlebens.

Neuorientierungsphase

In der Neuorientierungsphase wird der Konsens in seiner Handlungskonsequenz ausgearbeitet und als Vorbereitung von Handeln durch Simulationsverfahren (Plan-, Rollenspiel, Soziadrama, Behaviourdrama u.ä.) und darauf folgend durch Transfer in den Ausgangskontext, die Alltagssituation.
Immer wenn ein Ko-respondenzprozess in der Neuorientierung über Planung und Simulation hinausgeht, wird er zu einem neuen Projekt, das neue Probleme aufwirft, neue Konzepte erforderlich macht und neues Handeln nach sich zieht. Deshalb sind Ko-respondenzprozesse grundsätzlich schöpferische Prozesse.

Kontinuität und Diskontinuität im Ko-respondensprozess

Die Phasenfolge weist nur bedingt Kontinuität auf. Sprünge, Abbrüche, Blockierungen, Oszilieren zwischen Phasen, Repetitionen usw. sind möglich. Das Phasenmodell bietet eine Leitlinie und impliziert Konsens- und Koopertionsintentionen. Das Phasenmodell hat einen konstitutiven Wert, weil, wenn immer der Ko-respondenzprozess durchlaufen wird, Konsens und Praxis konstituiert werden, d.h. dass Wirklichkeit begriffen und gestaltet wird, dass Probleme erfasst und gelöst werden, dass eine Art von Synergie die Elemente des Ko-respondenzprozesses eine neue Gestalt konstituieren.