Gruppenprozessanalyse

Quelle: Orth I., Petzold H., Integrative Therapie 12/95, 197-212

Die phänomenal beobachteten Gruppenprozesse und ihr struktureller Untergrund, die bewussten und die unbewussten Gruppenereignisse sind für die Entwicklung gelingender sozialer Interaktionen und für Prozesse der persönlichen Gesundung sehr wesentlich. Gruppenprozessanalysen sind deshalb nicht nur in psychotherapeutischen Gruppenarbeiten essentiell, sondern auch im supervisorischen Setting von Team- und Gruppensupervisionen ein bedeutender Aspekt.

Um Prozessanalysen zu erstellen, wird auf eine Reihe von Referenztheorien zurückgegriffen:

  • Sozialpsychologie (Kompetenz-, Kommunikations-, Attributions-, Kontrolltheorien, ...)
  • klinische Theorien (Übertragung, Gegenübertragung, Widerstand, Abwehr, unbewusste Phantasien, ...)

Das Verständnis von Gruppe im integrativen Ansatz:

"Gruppe ist eine Anzahl von Menschen, die von sich selbst und von anderen als Gesamt und als unterschiedliche Individuen zu einer gegebenen Situation wahrgenommen werden können, durch gemeinsame Geschichte, Ziele und Interessen verbunden sind und sich durch spezifische Normen, Regeln und Interaktionsmuster organisieren. Die Gruppe ist durch Verbundenheit und Unterschiedenheit zugleich gekennzeichnet."

Auf sozialtherapeutische und supervisorische Fragestellungen angepasst, wurde eine weiter Definition vorgeschlagen, die 12 Merkmale aufweist:

  1. Eine Gruppe von Menschen ist ein relativ zeitkonstantes
  2. Interaktionssystem
  3. mit einem spezifischen Status- und Rollengefüge,
  4. einem verbindenden Wertesystem
  5. und Zielhorizont
  6. sowie gemeinsame Ressourcen,
  7. wodurch ein eigenes Gruppengefühl und Gruppenbewusstsein möglich wird,
  8. aufgrund dessen im Verein mit Identitätsattributionen aus dem sozialen Umfeld
  9. eine Gruppenidentität aufgebaut werden kann
  10. sofern nicht diese Prozesse durch Gruppenkonflikte
  11. die Reinszenierung individueller Pathologie
  12. und durch Akkumulation solcher Einflüsse zu Phänomenen gruppaler Pathologie gestört wird.

Für eine Gruppenprozessanalyse ist es wichtig, theoretische Mehrperspektivität zu erhalten und nicht in einer psychoanalytischen oder sozialpsychologischen Sichtweise fokusiert zu bleiben.

Prozessanalysen sollten stets gemeinsam im Sinne von "joint competence" durchgeführt werden, damit die Gruppe zur "Kompetenzgruppe" wird. Methodisch können erlebnisaktivierendes und reflexives Vorgehen verbunden werden.

Für die Gruppenpsychotherapie sind eine Reihe von Perspektiven für die Gruppenprozessanalyse beschrieben, die mehr oder weniger auch im supervisorischem Setting relevant sind:

  • Gruppenstabilität, Gruppenidentität und Kohäsion (Tragfähigkeit, Zusammenhalt, ...)
  • Kontinuität (zeitliche Rahmenbedingungen)
  • Diskursivität, kommunikative Kompetenz und Performanz (Diskursstil der Gruppe, ...)
  • Thema/Themenentwicklung (Themenentstehung, Themendominanz, ...)
  • Gruppenklima, Gruppenbewusstsein, Exzentrizität
  • Sozial World, Werte und Normen (individuelle und gruppale Wertesysteme, ...)
  • Rolle, Position, Rollenkonflikt (Rollenbilder in der Gruppe,...)
  • Kontext, social affordances (Räumlichkeiten, Ausstattung, kultureller Kontext, ...)
  • Übertragungsdynamiken, empathische Resonanz, Beziehungsrealität (Übertragungs- u. Gegenübertragungssituation, Empathien, ...)
  • Psychopathologische Phänomene (Depression, Angstphänomene, Fixierungen, ...)
  • Probleme, Ressourcen, Potentiale, Ziele
  • Ausgangslage und Rahmenbedingungen (Zielvorgaben, Erwartungen, Motivationen, ...)
  • Methoden, Techniken, Medien, Modalitäten (Einfluss der methodischen Zugangsweisen, ...)
  • Metaperspektive: Richtziele, Prinzipien, Grundannahmen (anthropoligische Grundannahmen, soz. Engagement, Selbstverwirklichung, Weltgeschehen, Aufträge des Leiters, ...)